“Alles deutet auf einen reinen Schauprozess hin”

Ein Interview von Dietmar Pieper

Sevim Dagdelen stammt aus Duisburg und gehört seit 2005 dem Deutschen Bundestag an, sie ist in der Linksfraktion Sprecherin für Abrüstungspolitik. Seit vielen Jahren setzt sie sich dafür ein, dass Julian Assange freigelassen wird, er ist für sie “ein Dissident des 21. Jahrhunderts”. Während der ersten Prozesswoche Ende Februar in London saß sie im Gerichtssaal. 

SPIEGEL: Frau Dagdelen, wie geht es im Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange jetzt weiter?

Dagdelen: Am 18. Mai soll die Anhörung der Zeugen beginnen, dann wird es spannend. Auch Journalisten aus Deutschland sollen aussagen. Noch im Sommer soll das Urteil in erster Instanz erfolgen. Beide Seiten sind gewillt, bis zur letzten Instanz zu gehen, was mehrere Jahre dauern kann.

SPIEGEL: Die USA legen Assange unter anderem zur Last, dass er durch die Veröffentlichung geheimer Dokumente Menschenleben gefährdet habe. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf.

Dagdelen: Ein Vorwurf, den die Ankläger im Prozess bisher durch nichts belegen konnten. Nach deren Logik müssten dann ebenso die Journalisten vor Gericht stehen, die das WikiLeaks-Material veröffentlicht haben, auch Redakteure vom SPIEGEL.

SPIEGEL: Sie kennen Assange und haben ihn mehrfach getroffen. Wann war Ihre erste Begegnung mit ihm?

Dagdelen: 2012, kurz nachdem er in der ecuadorianischen Botschaft Asyl beantragt hatte. Ich habe die hinter WikiLeaks stehende Idee von Anfang an unterstützt, den Ansatz, dass Transparenz für die Demokratie wichtig ist. Ich wollte mir persönlich ein Bild von Julian Assange machen, auch wegen der Vergewaltigungsvorwürfe aus Schweden. Und ich wollte meine Solidarität bekunden mit ihm als politischem Flüchtling.

SPIEGEL: Das ist er für Sie, ein politischer Flüchtling?

Dagdelen: Selbstverständlich, und heute ist er ein politischer Gefangener. Im Fall Assange geht es um unsere eigene Freiheit. Wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Gerade in der Außenpolitik erlebe ich immer wieder, wie viel Propaganda Regierungen verbreiten. Sie wollen uns weismachen, dass es “saubere Kriege” gebe, die angeblich “mit chirurgischer Präzision” geführt werden. Oder, dass es bei militärischen Interventionen um Menschenrechte ginge.

Julian Assange hat uns durch das von WikiLeaks veröffentlichte Material die Augen geöffnet: Jeder kann sehen, wie schmutzig Kriege auch heute noch sind und dass die Kriegsverbrecher nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es herrscht eine Kultur der Straflosigkeit. Stattdessen soll jetzt derjenige, der Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Missbrauch aufgedeckt hat, lebendig begraben werden.

SPIEGEL: Wie wirkte er im Gerichtssaal auf Sie?

Dagdelen: Mein letztes Treffen mit Julian Assange war im Dezember 2018. Am Tag seiner Festnahme im April vergangenen Jahres wollte ich ihn wieder besuchen, ich war bereits auf dem Weg nach London. Der Julian Assange, den ich jetzt gesehen habe, ist sichtlich gezeichnet, er wirkt schwer angeschlagen und kann sich anscheinend nur schlecht konzentrieren. Ein ganz anderer Mensch. Als wenn er gebrochen wäre.

SPIEGEL: Bekommt er ein faires Verfahren?

Dagdelen: Alles bisherige deutet auf eine Vorverurteilung, auf einen reinen Schauprozess hin.

SPIEGEL: Aber Großbritannien ist ein Rechtsstaat.

Dagdelen: Was ich im Gerichtssaal gesehen habe, lässt in diesem Fall erhebliche Zweifel aufkommen. Prozessuale Waffengleichheit und Partizipation des Beschuldigten sind Voraussetzungen für ein faires Verfahren. Assange aber werden diese Rechte verwehrt. Er hat keinen direkten Zugang zu seinen Anwälten, stattdessen sitzt er ganz am Ende des Saals, ungefähr sechs Meter von seinen Prozessbevollmächtigten entfernt, abgeschirmt hinter Panzerglas wie ein Topterrorist, flankiert von zwei Sicherheitskräften in einem sogenannten “secure dock”.

Er darf sich nur durch die dünnen Schlitze im Panzerglas gegenüber seinen Anwälten äußern. Eine vertrauliche Kommunikation ist nicht möglich. Die Akustik im ganzen Gerichtssaal ist miserabel, in seinem “secure dock” erst recht. Die Mikrofonanlage funktioniert schlecht. Die Vertreter der Anklage, Mitarbeiter des US-Außenministeriums und der Botschaft in London, sitzen dagegen zusammen und können sich dauernd und ungestört miteinander eng abstimmen. Damit Assange mit seinen Verteidigern richtig reden kann, muss die Verhandlung unterbrochen werden. Das ist vollkommen absurd und widerspricht dem Recht auf eine angemessene Verteidigung, die in einem Rechtsstaat jederzeit gewährleistet sein muss.

SPIEGEL: Die Verhandlung wird von einer einzelnen Richterin geleitet, die am Ende das Urteil fällt. Welchen Eindruck haben Sie von ihr?

Dagdelen: Allein am letzten Vormittag der ersten Anhörungsrunde hat sie die Verteidigung 17-mal unterbrochen, die US-Seite dagegen nur einmal. Zu Beginn des zweiten Verhandlungstages trugen die Anwälte von Assange vor, dass ihr Mandant von Montag auf Dienstag elfmal gefesselt und in fünf verschiedene Zellen gesteckt worden sei, dass man ihn zweimal nackt einer Leibesvisitation unterzogen habe und er private Notizen abgeben musste.

Die Richterin sagte daraufhin, dass sie da nichts tun könne und die Verteidiger sich an die Gefängnisleitung wenden müssten. Auf die Bitte von Assange, bei seinen Anwälten sitzen zu können, signalisierte die US-Seite Zustimmung und wies auf die Entscheidungsmacht der Richterin hin. Sie vertagte jedoch das Thema mit dem Hinweis, sie habe nicht die Autorität, darüber zu entscheiden. Tags darauf lehnte sie dann den Antrag ab und führte Sicherheitsgründe an.

SPIEGEL: Der Uno-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, ist der Ansicht, dass sich Großbritannien, die USA und weitere Staaten gegen Assange verschworen haben, um an ihm ein Exempel zu statuieren.

Dagdelen: Dem kann ich nur zustimmen. Mag sein, dass es für eine staatliche Verschwörung keinen letzten Beweis gibt, aber das Gesamtbild aus den vielen Indizien ist eindeutig. Assange wird systematisch entmenschlicht, dämonisiert und zur Unperson gemacht. Es ist erschütternd, was hier vor unser aller Augen mit einem Dissidenten des 21. Jahrhunderts passiert.

Quelle: Der Spiegel