„Erdogan hält syrische Flüchtlinge in der Türkei als Faustpfand“

Der türkische Präsident Erdogan destabilisiere mit seiner Expansionspolitik die Mittelmeerregion, sagte Linken-Politikerin Sevim Dagdelen im Dlf. Das Flüchtlingsabkommen nutze er, um immer neues Geld von der EU zu fordern. Zu dieser „Erpressungssituation“ müsse eine Alternative geschaffen werden.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Tobias Armbrüster


Bundeskanzlerin Angela Merkel ist in der Türkei. Die Themen sind divers – und viele sind konfliktbeladen. Neben den bilateralen Punkten um die eingefrorenen EU-Beitrittsgespräche soll es auch um die Krisen in Libyen und Syrien gehen. Offizieller Grund für den aktuellen Besuch ist die Eröffnung eines neuen, türkisch-deutschen Universitäts-Campus in Istanbul, aber schon in den vergangenen Tagen hat ein ganz anderes Thema die Agenda dominiert: Die Türkei stellt das Flüchtlingsabkommen mit der EU wieder einmal infrage. Vor allem türkische Politiker beschweren sich schon seit Langem über angeblich ausbleibende Geldzahlungen aus Europa.

Sevim Dagdelen ist Außenpolitikerin der Linkspartei, Fraktionsvize und im Bundestag seit vielen Jahren eine der stärksten Kritikerinnen des türkischen Präsidenten.

„Kritische Intelligenz in die türkischen Gefängnisse gejagt“

Tobias Armbrüster: Frau Dagdelen, ein neuer Bau der türkisch-deutschen Universität – ist das zumindest ein guter Anlass für so eine Reise?

Sevim Dagdelen: Das könnte man natürlich sagen, dass das eine softer Anlass ist, allerdings, erstens, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass der türkische Präsident Erdogan mit seiner politischen Verfolgung von Andersdenkenden auch ganz besonderes die Intelligenz, die kritische Intelligenz ins Exil oder auch in die türkischen Gefängnisse gejagt hat und, zweitens, natürlich auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch um ganz harte Themen geht bei diesem Besuch.

Armbrüster: Harte Themen sprechen Sie an. Muss Europa das inzwischen akzeptieren, Erdogan ist der neue starke Mann vor der Haustür der EU?

Dagdelen: Mein Eindruck ist, dass man seitens der Bundesregierung den türkischen Staatspräsidenten Erdogan als einen Problemlöser tatsächlich wohl wahrnimmt. Dabei ist Erdogan eigentlich der Problemverursacher Nummer eins in der Mittelmeerregion, nicht nur durch die Erpressungssituation, dass er neue Forderungen immer wieder stellt bezüglich des EU-Flüchtlingsabkommens, immer wieder nur neues Geld erpressen möchte, um mit den Flüchtlingen quasi als Faustpfand, aber auch, dass er in der Region auch eine Expansionspolitik betreibt, völkerrechtswidrig in Nachbarländer einfällt, wie Syrien, die Souveränität des europäischen Mitgliedsstaats Zypern verletzt oder auch beispielsweise Abkommen macht mit der Moslembruder-Regierung in Libyen, das nicht nur das Seerecht verletzt, sondern auch das Völkerrecht zulasten eines europäischen Mitgliedsstaats Griechenland. Das halte ich alles für ein Problem.

Armbrüster: Frau Dagdelen, dann bleiben wir erst mal kurz bei der Flüchtlingspolitik. Sie haben jetzt das Flüchtlingsabkommen angesprochen. Die Türkei – das muss man sich ja wieder ins Gedächtnis rufen – übernimmt Millionen von Flüchtlingen, die andernfalls alle nach Europa kommen würden. Ist es da nicht verständlich, dass Erdogan darauf achtet, dass die EU tatsächlich ihren Teil dieses Abkommens auch haargenau erfüllt?

Türkischer Präsident stellt „ständig neue Forderungen“

Dagdelen: Ja, aus seiner Sicht natürlich, und nicht nur erfüllt, sondern er kommt ja auch mit immer neuen Forderungen. Also als Bundesinnenminister Seehofer vor Kurzem in der Türkei war, hat er ja auch noch mal, die türkische Regierung, neue Forderungen gestellt, dass sie neues Geld brauchen, also über die sechs Milliarden Euro, die die Europäische Union ihm zugesagt hat und das bis Ende des Jahres 2020 auch verplant sein soll laut der EU-Kommission. Über dieses Geld hinaus will er neues Geld.

Das Problem sehe ich eigentlich ganz woanders, weil wir sind in einer Situation, wo wir uns selbst hineinmanövriert haben, eine Erpressungssituation, wo der türkische Präsident ständig neue Forderungen stellt und wir diesen Forderungen, die Bundesregierung, die EU, diesen Forderungen nachkommen will, willfährig wie man ist, weil man die Flüchtlinge quasi von Europa weghalten möchte, aber ich finde, das ist kein Zustand, also in so einer Erpressungssituation zu sein. Man muss grundlegend Alternativen zu dieser verheerenden Politik schaffen.

Armbrüster: Sie sagen jetzt Erpressungssituation. Man könnte auch sagen, das ist ein Deal, das ist ein Austausch von Interessen, der da gemacht wird, und der muss möglicherweise alle paar Monate auch noch einmal auf die Probe gestellt werden.

Dagdelen: Nun, da muss man natürlich sagen, auf wessen Kosten ist er. Also ich finde, wie gesagt, der türkische Präsident ist eine personifizierte Fluchtursache, auch wegen seiner Gewaltpolitik gegen die Kurden, die politische Verfolgung von Andersdenken und auch natürlich die Unterstützung islamistischer Terroristen in der Region und der ganzen Eskalation und Provokation im Mittelmeerraum.

Wer sich von so einem Autokraten erpressbar macht, der gibt sich ja selbst auf. Also Erdogan hält ja die syrischen Flüchtlinge in der Türkei als Faustpfand. Er hat gar kein Interesse daran, die Lage von ihnen zu verbessern, geschweige denn sie in die türkische Gesellschaft zu integrieren, und die EU und die Bundesregierung sollen das weiterhin finanzieren. Er hält die Flüchtlinge perspektivlos und damit abreisebereit.

Das ist eine Politik, die meiner Meinung nach auch gleichzeitig ein Ausverkauf der selbsterklärten, wertegeleiteten Außenpolitik der Europäischen Union ist, wenn man so quasi mit so einem Flüchtlingsproblem umgeht.

Expansive Außenpolitik „destabilisiert ganze Region“

Armbrüster: Frau Dagdelen, das alles funktioniert aber auch nur, weil die EU dem türkischen Präsidenten in Syrien zum Beispiel, aber auch jetzt in Libyen und an vielen Stellen im Mittelmeerraum völlig freie Hand lässt –

Dagdelen: Richtig.

Armbrüster: – und weil die EU ihre eigenen Interessen nicht vertreten will.

Dagdelen: Aber ich sage, ihre eigenen Interessen nicht vertreten möchte, und das ist ein Problem, weil es wird ja die ganze Region mit destabilisiert durch einen Autokraten wie Erdogan, der diese Provokationen ausübt, der eine expansive Außenpolitik führt, anstatt wirklich eine Alternative zu schaffen, wie beispielsweise die Perspektiven für die Menschen in der Region zu verbessern, Stichwort Wirtschaftssanktionen gegen Syrien.

Das ist doch unsinnig, diese Wirtschaftssanktionen zu halten. Man muss sie aufheben, man muss dort Wiederaufbau befördern. Man muss den Libanon stabilisieren, der gerade dabei ist zu kippen. Das würde eine weitere Destabilisierung bringen. Man muss zielgerichtet darauf hinarbeiten, dass man die Flüchtlinge in der Region quasi behält, wenn man Perspektiven sozusagen für sie schafft, aber durch die Nichtreaktion, durch das Schweigen zu den Völkerrechtsbrüchen von Erdogan ist er natürlich gestärkt aus dieser Situation hervorgegangen.

Armbrüster: Jetzt sprechen Sie von Stabilisierung, Frau Dagdelen, aber wenn es darum geht, beispielsweise Soldaten zur Überwachung eines Waffenstillstands in ein Land zu schicken, wie zum Beispiel Libyen, dann ist ihre Fraktion, Die Linke, regelmäßig die erste, die dagegen aufsteht und sagt, das geht nicht.

Dagdelen: Also ich finde die Diskussion, die außen- und sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland ja bizarr, besonders vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Also ich meine, jeder, der Bundeswehreinsatz schreit als erster, hat gewonnen offensichtlich in der Debatte. Das ist abstrus, besonders vor dem Hintergrund, dass es keinen Waffenstillstand gibt, der überwacht werden soll, und zweitens, die UNO hat hier die Federführung, und der UN-Sonderbeauftragte zu Libyen hat gesagt, dass er gegen eine militärische Intervention, einen Einsatz dort ist zwecks Überwachung von irgendetwas. Also ich würde mich ungern als Opposition, und schon gar nicht sollte es die Bundesregierung in Deutschland tun, sich gegen die Vereinten Nationen hier zu stellen.

„Klartext mit Erdogan sprechen“

Armbrüster: Aber hilft es denn, solch eine Option rundheraus abzulehnen? Über die humanitären Optionen beispielsweise in Libyen wurde ja schon beraten. Da haben ja auch regelmäßig Politiker aus der Koalition gesagt, Wiederaufbau, können wir alles machen, humanitäre, gesundheitliche Versorgung, geht alles, aber beim Thema Soldaten, beim Thema militärische Zusammenarbeit, beim Thema, wie gesagt, Überwachung einer Waffenruhe, da blockiert vor allem Ihre Partei. Ich frage deshalb noch mal: Wie lange kann sich Die Linke das noch leisten?

Dagdelen: Herr Armbrüster, es gibt überhaupt keine Anforderungen für einen Bundeswehreinsatz in Libyen, auch vor dem Hintergrund, dass wir die Situation in Libyen so instabil haben aufgrund eines Militäreinsatzes, wo Gott sei Dank damals unter Außenminister Guido Westerwelle Deutschland eben nicht mitgemacht hat, jetzt noch mehr Militär hinzuschicken, das ist die falsche Adresse.

Armbrüster: Ganz kurz, Frau Dagdelen …

Dagdelen: Der UN-Generalsekretär Guterres hat gesagt, er will nicht, dass Deutschland und die EU sich als militärische Macht dort zeigen, sondern für den Wiederaufbau, für den diplomatischen, politischen Prozess und für die humanitäre Situation.

Armbrüster: Und das heißt dann, die EU überlässt Erdogan in diesem Land freie Hand.

Dagdelen: Nein. Man muss hier Klartext sprechen. Damit diese Reise auch überhaupt Erfolg hat, muss man Klartext mit Erdogan sprechen. Man darf ihm nicht konsequenzenlos jeden völkerrechtswidrigen Überfall in Syrien durchgehen lassen, auch nicht die Entsendung von islamistischen Terrormilizen aus der Türkei und aus Syrien nach Libyen oder auch nicht die Verletzung der Souveränität von europäischen Mitgliedsstaaten wie Zypern und Griechenland. Wir dürfen nicht Zypern und Griechenland fallenlassen, nur weil wir den Flüchtlingsdeal mit Erdogan halten wollen, weil das wird eine weitere Destabilisierung in der Region mit sich bringen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.