„The European“ hat in allen Bundestagsfraktionen nachgefragt: Wie gehen Abgeordnete mit Corona um? Wie hat sich ihr Alltag geändert? Haben sie Tipps für den Bürger? Und vor allem: Wann normalisiert sich unser Leben wieder? Hier antwortet Sevim Dagdelen, Außenpolitikerin in der Fraktion Die Linke.
Wir sind weitgehend gehalten, unsere vier Wände nicht zu verlassen und uns maximal gemeinsam mit den Menschen aus unserem Haushalt draußen aufzuhalten. Sind Sie zufrieden mit der Disziplin, mit der offenkundig die meisten Mitmenschen das Kontaktverbot befolgen? Oder sind Sie besorgt, dass wegen des Regelbruchs durch einzelne letztlich Ausgangssperren kommen müssen?
Sevim Dagdelen: Es ist beeindruckend, wie ernst die Bevölkerung in Deutschland die kollektive Bedrohung durch das Covid-19-Virus nimmt und wie ernsthaft sich die Menschen ganz überwiegend an den Schutzmaßnahmen beteiligen. Das reicht aber nicht. Ich bin zutiefst besorgt, da die Bundesregierung viel zu spät reagiert und dann auch noch unentschlossen. Dies setzt sich jetzt fort, bei der Produktion und rechtzeitigen Bestellung von Tests, Atemschutzmasken und Beatmungsgeräten hat man so viel versäumt und gefährdet damit viele Menschen. Dass Firmen mit astronomisch angestiegenen Preisen für medizinische Schutzausrüstung jetzt auch noch die Not der Kliniken ausnutzen, macht fassungslos. Die Produktion der lebensnotwendigen Güter muss jetzt dringend staatlich koordiniert und mit administrativen Weisungen durchgesetzt werden. Wenn in der Schweiz Schutzmasken staatlich produziert werden und in den USA General Motors staatlich verpflichtet wird, Beatmungsgeräte herzustellen, kann dies in Deutschland als Land der Ingenieure und Maschinenbauer ohne Abhängigkeiten aus dem Ausland umgesetzt werden. Es ist bedrückend, dass dies bisher nicht passiert. Hier liegt ein eklatantes Versagen der Bundesregierung vor, das viele Menschenleben gefährdet.
“Unverantwortlich ist das Festhalten an milliardenschweren Rüstungsprojekten”
Im Unterschied dazu verstehen die meisten Leute, was zu tun ist. Abstand halten als Gebot der Stunde ist das wichtigste Zeichen der Solidarität. Ich wünsche mir, dass wir uns diese Solidarität nach der Krise erhalten, dass wir uns gemeinsam mit denjenigen stark machen, die jetzt ranklotzen, auf der Station, an der Kasse, bei der Post und in der Bahn. Reine Dankesadressen der politisch Verantwortlichen an die Beschäftigten in den Krankenhäusern und an den Supermarktkassen kann ich nicht ernst nehmen. Sie sind wohlfeil und kosten nichts. Dabei wäre es ein leichtes für die Bundesregierung gewesen, neben den Hilfsprogrammen auch einen Sofortzuschlag in Höhe von 500 Euro im Monat zu beschließen. Davon könnten sich die Beklatschten auch etwas kaufen. Richtig unverantwortlich ist auch das sture Festhalten der Bundesregierung an milliardenteuren Rüstungsprojekten, während in den Krankenhäusern und Arztpraxen ein eklatanter Mangel an Schutzausrüstung herrscht.
So wie es ist, darf es jedenfalls nicht bleiben. Das ist schon jetzt die wichtigste Lehre aus der Corona-Pandemie. Zur Solidarität wird auch eine Vermögensabgabe der Millionäre und Milliardäre gehören müssen, wenn man nicht will, dass wieder Leute mit kleinen und mittleren Einkommen die Krise bezahlen.
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Politiker haben gewöhnlich viele Termine, nun aber sind auch Sie gezwungen, viel Zeit daheim zu verbringen. Haben Sie aus den ersten Tagen Tipps für Ihre Mitmenschen zur Hand? Welches Buch sollte man lesen, welchen Film schauen, welcher Musik lauschen, welchem Hobby frönen?
Sevim Dagdelen: Ehrlich gesagt fehlt mir wie den meisten anderen in diesen Tagen die Zeit für Muße und Müßiggang. Zum Homeoffice kommt der Heimunterricht für die Kinder dazu, denen man noch dazu immer aufs Neue erklären muss, dass sie sich erst einmal nicht mit ihren Freunden treffen können. Und das bei schönstem Sonnenschein draußen.
Als Abgeordnete sind wir in der Krise besonders gefragt. Es ist die vornehmliche Aufgabe des Bundestages, das Tun und Lassen der Bundesregierung zu kontrollieren. Wir müssen stets schauen, was sinnvoll und richtig ist. Als Linke achten wir sorgsam darauf, dass wir über die Corona-Krise nicht unsere Bürger- und Freiheitsrechte verlieren. Die verschiedenen staatlichen Eingriffe und Beschränkungen müssen abgewogen sein.
Bücher, die man jetzt lesen sollte
Wer auch immer die Zeit findet und die Ruhe zum Lesen hat, sollte unbedingt den Buchhandel unterstützen, der vielerorts Onlinebestellungen anbietet. Als jemand, die selbst von „ganz unten“ kommt, hat mich zuletzt der Roman „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron bewegt, den ich auch als Autor des „Freitag“ sehr schätze. Er beschreibt schonungslos, was es heißt, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Dazu passt das schmale Bändchen „Der Krieg der Armen“ von Éric Vuillard. Der französische Schriftsteller setzt in seinem Buch dem Reformator Thomas Müntzer, der sich während der Bauernkriege vor rund 500 Jahren auf die Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten stellte, ein großartiges Denkmal. Die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft reicht bis in unsere Gegenwart. Und ich freue mich auf die Lektüre des gerade erschienenen Buches von Matthias Platzeck: „Wir brauchen eine neue Ostpolitik. Russland als Partner“. Ich hoffe sehr, dass sein Appell für einen Dialog auf Augenhöhe nicht untergeht.
Für den 1. April habe ich mir im Kalender dick den ARD-Themenabend markiert. Das Erste zeigt ab 20.15 Uhr den investigativen Spielfilm „Meister des Todes 2“ über illegale Kriegswaffenlieferungen und im Anschluss die Dokumentation „Tödliche Exporte 2 – Rüstungsmanager vor Gericht“. Daniel Harrich und sein Team leisten hier wirklich herausragende Aufklärungsarbeit. Sie geben den Opfern deutscher Waffenexporte Namen und Gesicht, sie decken die dreisten Lügen der Rüstungskonzerne auf und die politisch gewollten Lücken in den deutschen Gesetzen, die solch mörderische Exporte erst möglich machen.
Wie lange wird es dauern, bis Deutschland zur weitgehenden Normalität zurückkehren, Kinder wieder zur Schule gehen und wir alle uns abends in Kneipen, bei Sportveranstaltungen oder in Konzerten und Theatern treffen können?
Sevim Dagdelen: Niemand kann im Augenblick vorhersagen, wie lange das genau dauern wird. Wir alle hoffen natürlich, eher früher als später unseren gewohnten Alltag wieder zu haben. Ganz sicher wird das nicht auf einen Schlag passieren, sondern Schritt für Schritt. Im Blick müssen wir dabei stets diejenigen behalten, die durch die Corona-Epidemie am meisten gefährdet sind, ältere Menschen und diejenigen mit Vorerkrankung. Deren Schutz muss nach Kräften sichergestellt werden. Ich denke, wir alle dürften uns schwerlich über Konzerte oder Kinobesuche freuen, wenn wir wissen, dass dafür die Großeltern unserer Kinder nicht mehr behandelt werden, weil die medizinischen Kapazitäten nicht reichen. Hoffnung machen mir die Berichte über die Entwicklung neuer Testverfahren, die es ermöglichen würden, im großen Stil auf Covid-19-Viren zu testen und Infizierte einzeln zu isolieren, statt ein ganzes Land in Quarantäne stecken zu müssen.
“Neoliberalen Kapitalismus können wir uns nicht mehr leisten”
Wir müssen aber auch Lehren allgemein ziehen für die Zukunft. Wir brauchen einen starken Sozialstaat und ein starkes Gesundheitssystem in öffentlicher Hand. Einen neoliberalen Kapitalismus, der auf Profitmaximierung setzt, können wir uns als verantwortungsbewusste Gesellschaft schlicht nicht mehr leisten. Die gesamte Daseinsvorsorge muss in öffentliche Hand. Die anstehenden Verstaatlichungen müssen von dauerhafter Natur sein. Es darf nicht sein, dass in der Krise wieder Verluste sozialisiert, aber später dann die Gewinne privatisiert werden.
Quelle: The European